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Kapitel 8

Stille. Alle Köpfe drehten sich ruckartig zu Liam, als hätte er von jedem eine Niere oder vielleicht auch ein Stück Herz verlangt. Selbst Freya drehte sich zu ihrem Bruder, erhob sich aus dem Grab und ließ sich an dessen Rand nieder. Ihre Beine baumelten noch in dem Loch, während sie eine Zigarettenschachtel aus ihrer Jacke zog, und Sekunden später zog der Geruch von verbranntem Tabak über den Friedhof.

„Setz dich, das kann dauern", sagt sie zu Samantha, die sie irritiert ansah. Doch bevor diese ihren Unmut über diese Verzögerung äußern konnte, begann das Theater.

Norajas Faust schlug in Liams Schulter ein. Der unerwartete Stoß ließ ihn taumeln. Sein Fuß verfing sich an einer Baumwurzel und schon ging er zu Boden. Knurrend drehte er sich herum, stemmte sich auf und fixierte Noraja. Deren Augen pulsierten bereits drohend und ihr Kiefer zuckte. „Niemand sagt mir, was ich zu tun oder lassen habe, und schon gar kein Abkömmling der verfickten Mafia. Ich werde mit Antry gehen und es ist mir egal, was du oder dein neuer bester Freund davon hältst. Verstanden?"

Ihre Stimme war am Ende nicht mehr als ein warnendes Zischen. Wut regte sich in Liam, doch das Flimmern in ihren Augen zeigte ihm, dass der schmale Grat zwischen Leben und Tod gerade zu einem zerbrechlichen, verdammt morschen Ästchen geworden war.

Sein Blick zuckte zu Jason. „Hast du dazu nichts zu sagen?"

Der grinste schief und ließ sich neben Freya auf den Boden fallen. „Weißt du, es gibt Kämpfe, die kann man nicht gewinnen." Er zeigte dabei auf Noraja. „Und das ist einer davon."

Liam biss die Zähne aufeinander. Sein Blick schweifte zu Antry, dessen starrer Ausdruck nichts Gutes verhieß. Iskaii hingegen ließ seine Hand langsam zu seinem Schwert wandern. Doch selbst diese kleine Bewegung entging Noraja nicht und sofort wirbelte sie zu ihm herum. Mit erhobenen Sichelklingen stand sie drohend dem Krieger. „Und du...", knurrte sie und starrte dabei in seine grünen Augen. „... lässt dein Schwert lieber, wo es ist, anderenfalls entweiht dein Blut gleich diesen Ort."

„Einfach grandios", murrte Freya, drückte den Rest ihrer Zigarette aus und räusperte sich. „Vorschlag zur Güte: Noraja und Antry verpissen sich. Und zwar ganz. In diesem Kaff scheint es genügend Idioten zu geben, mit denen sie Spaß haben können."

„Bist du irre?", unterbrach Liam sie fassungslos.

Freya stand auf, wischte sich angewidert ihre dreckigen Hände an ihrer Jogginghose ab und sah zu ihren schlammigen Sneaker. Wie beschissen konnte so ein Abend eigentlich werden? Mit der Rückhand schob sie einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah dann in das entgeisterte Gesicht ihres Bruders.

„Ja, aber das hat nichts damit zu tun. Du machst dir Sorgen wegen mir. Siehst Antry als Gefahr. Er...", sie zeigte zu Iskaii, „... scheint das ähnlich zu sehen. Plus, Noraja passt ihm auch nicht. Jason hat aufgegeben und sie...", ihr Blick huschte zu Dandelia, die die Situation ungläubig beobachtete, „... kommt zu nichts, weil sie ständig einen der beiden Kasper im Zaum halten muss. Also."

Freya machte eine kreisende Geste durch die Runde und hielt bei Antry und Noraja inne. „Wenn die beiden verschwinden, kann der Rest sich um die Leichen kümmern. Denn bei den Göttern, wenn ich im Morgengrauen immer noch hier bin, anstatt in einem Scheißpub zu sitzen, bekommen wir ein wirkliches Problem." Sie hob die Brauen. „Höre ich sinnvolle Gegenstimmen?"

In Iskaiis Augen flackerte ein gefährliches Glimmen, wie ein loderndes Feuer, das kurz davor stand, alles in seiner Nähe zu verschlingen. Das Lichtspiel in seinen grünen Iriden war unheilvoll. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Doch Dandelia entging dieser subtile Wandel nicht. Sie spürte die aufkeimende Gefahr, die von ihm ausging, wie ein drohender Sturm, der am Horizont aufzog. Gleichzeitig bemerkte sie, wie sich Antrys Iriden schwarz färbten, als ob er in die tiefsten Abgründe seines Wesens hinabsank, dort, wo kein Licht jemals vordrang.

Norajas Klingen blitzten bedrohlich, scharf und tödlich, bereit, jeden Moment zuzuschlagen. Aber Dandelia schenkte ihnen keine Beachtung. Sie wusste, dass es jetzt nur einen Weg gab, das unausweichliche Blutvergießen zu verhindern. Mit einem entschlossenen Schritt war sie an Iskaiis Seite. Sie legte ihre Hand fest über seine, die den Griff des Schwertes fest umschloss, und spürte die raue Haut unter ihren Fingern.

Ihr Herz pochte wild, doch ihre Stimme blieb ruhig, fest, voller Autorität, als sie dicht an seinem Ohr flüsterte - jedes ihrer Worte wie eine Drohung:

„Wenn du auch nur den Hauch einer Chance hast, lebendig und unversehrt aus dieser vollkommen verrückten Welt zu entkommen, dann lässt du dein Schwert stecken." Ihre Augen fixierten seine, ihre Blicke verschmolzen zu einer stillen Kommunikation, die alle Worte überflüssig machte. „Und dann ziehen wir gemeinsam los und suchen diese verdammten Aufkleber."

Iskaii Herzschlag hallte in seiner Brust wider, als er in die eisblauen Augen sah und für einen Moment schien die Welt um sie herum stillzustehen. Die Kälte in ihren Augen war schneidend, doch die Wärme, die von ihrer Haut ausstrahlte, überraschte ihn. Sie war nah genug, dass er ihren Atem auf seiner Haut spüren konnte, und allmählich begann die Spannung in seinen Schultern nachzulassen. Seine Muskeln lockerten sich, als würde die Anwesenheit dieser Frau den stählernen Panzer um seine Seele durchdringen. Trotzdem blieb sein Blick hart, als er Noraja ins Auge fasste, seine Stimme ein knurren:

„Ich halte es trotz allem für eine todbringende Idee, die beiden alleine ihrer Wege ziehen zu lassen."

Samantha, die neben Freya stand, schenkte ihm nur einen spöttischen Blick, ihre Lippen verzogen sich zu einem spitzen Lächeln.

„Sollen sie sich gegenseitig abmurksen. Wen kümmert es." Ihre Stimme klang ungerührt, fast gelangweilt, als ob das Schicksal der anderen nichts als ein ferner Sturm am Horizont wäre. Freya nickte zustimmend.

„Ich denke nicht, dass sie das tun." Dandelias Worte hingen in der Luft und Iskaii folgte ihrem Blick zu Antry, der ihn immer noch mit einem Feuer in den Augen anstarrte, das ihn durchbohrte. Antry war eine Naturgewalt, ein Mann, dessen Zorn wie ein tobender Sturm über sie alle hereinbrechen konnte, wenn er nicht kontrolliert wurde.

„Ich befürchte jedoch, dass sie unser Blut vergießen werden, wenn wir uns ihnen in den Weg stellen."

„Ich würde dir nichts tun", grollte Antry. Seine Stimme war so tief und dunkel, als ob sie aus den tiefsten Schluchten der Hölle selbst kam. „Ihn hingegen", fuhr er fort, während seine Lippen sich zu einem grausamen Grinsen verzogen, „würde ich ohne zu zögern zerfetzen."

Iskaiis Schwertarm spannte sich augenblicklich an, die Muskeln unter seiner Haut traten hervor, als wäre jede Faser seines Körpers bereit, sich in die tödliche Bewegung zu stürzen. Sein Blick war auf Antry fixiert, die Bedrohung in seinen Augen ebenso messerscharf wie die Klinge in seiner Hand. Doch bevor er handeln konnte, spürte er einen festen Druck an seinem Arm. Dandelias Hand umklammerte ihn, ihre Finger zitterten leicht, während sie versuchte, die wachsende Spannung zu bändigen. Ihre Augen flehten ihn an, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, das die drückende Stille durchbrach:

„Nicht, Iskaii."

Ein Moment der Stille hing in der Luft, so schwer, dass jeder Atemzug wie ein Kampf gegen unsichtbare Fesseln schien. Jäh durchbrach Samantha diese erdrückende Stille mit einem lauten Seufzen, das eher wie ein genervtes Raunen klang.

„Hätte ich gewusst, dass das hier zu einer verdammten 'Ich-kille-dich-nein-ich-kille-dich-zuerst'-Show mutiert, hätte ich Jen den Stinkefinger gezeigt, ihre Nachricht gelöscht und mich mit Pizza und Bier zu Dean aufs Sofa verpisst." Ihre Stimme triefte vor sarkastischer Resignation, während sie frustriert ein paar widerspenstige Strähnen ihrer roten Locken zurück in den Zopf stopfte. Jede ihrer Bewegungen zeigte, wie sehr sie sich nach Normalität sehnte – nach etwas, das nicht nach Blut roch und in Dunkelheit gehüllt war.

Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her, bevor sie scharf einatmete.

„Können wir diese Alpha-Männchen-Scheiße jetzt beenden und diesen Mist hier endlich beseitigen?"

Dandelia umklammerte Iskaiis Handgelenk. Ihre Finger gruben sich tief in seine Haut, während sie mit aller Kraft an ihm zerrte, als würde ihr eigenes Leben davon abhängen.

"Wir suchen gelbe Aufkleber", stieß sie hervor.

Iskaii hielt inne, überrascht von der unerwarteten Heftigkeit, mit der sie ihn wegzog. Seine Augen verengten sich, seine Lippen formten einen stummen Protest, doch die Entschlossenheit in Dandelias Blick ließ ihn innehalten. Mit einem letzten Ruck schob sie ihn von Noraja weg.

Diese beobachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Ihre Augen funkelten gefährlich und für einen Moment schien es, als würde sie etwas Entsetzliches in die Tat umsetzen wollen. Dandelia fixierte sie mit einem Blick, der sowohl Warnung als auch Bitte in sich trug.

"Mach Antry nicht wütend", ermahnte sie mit einer Stimme, die trotz der Anspannung sanft klang. "Es würde dir und dieser Welt nicht gut bekommen."

Noraja öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, erklang Samanthas spöttische Stimme aus dem Hintergrund.

"Eine ganz neue Erkenntnis", höhnte sie, während sie sich bückte, um das schwere Brecheisen vom Boden aufzuheben. Mit einer fast beiläufigen Bewegung wog sie das Werkzeug in ihrer Hand, bevor sie es entschlossen in den Spalt zwischen einer der alten Grabplatten drückte. Ein leises Knirschen erfüllte die Luft, als das Metall auf den Stein traf.

Sie konzentrierte ihre ganze Kraft auf das Brecheisen und ihre Muskeln spannten sich unter der Anstrengung an. Ein Schweißtropfen rann über ihre Schläfe, während sie das Werkzeug langsam nach unten drückte. Der Stein gab allmählich nach, hob sich ein wenig, und ein kalter, fauliger Geruch entwich aus dem sich öffnenden Grab.

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