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Kapitel 7

Wenn er doch nur wüsste, wie recht er hatte. Liam bewegte sich langsam in die Richtung der Gruppe, während seine Gedanken kreisten. Gedanklich stimmte er Iskaii zu. Die Konstellation war beschissen und sie konnte noch viel beschissener werden. Sicher brauchte Freya weder seinen Schutz noch seine Sorge. Aber er war ihr verdammter Bruder. Er musste diese Gedanken loswerden. Sie lenkten ihn ab. Er folgte dem Krieger und trat zwischen zwei abgewetzten Grabsteinen hindurch und schon traf ihn der Schlag. 

„Verfickte Scheiße! Wie viele sind das denn?" Er starrte fassungslos über die Ansammlung von Müllsäcken. Daneben eine zerbrochene Grabsteinplatte.

Freyas Kopf schoss aus dem dazugehörigen Grab. Erste Dreckspuren zeichneten sich auf ihrer Wange ab, Zorn stand in jedem Millimeter ihres Gesichts und in ihren Iriden wohnte das pure Gift. 

„Zu viele und jetzt komm endlich in Gang."

Ihre Finger wanderten über das feuchte Gras, ergriffen eins der Brecheisen und im nächsten Moment schleuderte sie es, mit all ihrer angestauten Wut über die Situation, ihrem Bruder entgegen. Wissend, dass er es nicht ohne Blessuren abfangen konnte, drehte er sich zur Seite.

Ein schmerzerfülltes Stöhnen ertönte, gefolgt von einem unterdrückten Lachen aus Norajas Richtung. 

„Versenkt."

Jason, der unmittelbar hinter Liam gestanden hatte, krümmte sich und ging in die Knie. 

„Was soll das?", keuchte er und presste sich die Arme um den Magen.

„Sorry Kumpel", raunte Liam und versuchte, sich ebenfalls das Lachen zu verkneifen. Er beugte sich und ergriff das Brecheisen, welches neben Jason auf dem weichen Boden lag.

„Ich bring sie um", zischte Jason und nahm die Hand, die Liam ihm entgegenstreckte.

Freya prustete die Wangen auf und warf den beiden einen weiteren giftigen Blick aus ihrem Grab zu. 

„Hör auf zu jammern und sucht nach Gräbern mit gelben Aufklebern! Ich habe nicht vor, morgen noch hier zu stehen oder zu graben."

„Das übernehmen wir", mischte Noraja sich ein und deutet auf sich und Antry, dann auf die zerbrochene Platte neben Freya. „Ihr macht nur noch mehr Schaden. Wir brauchen die Platten, ansonsten können wir die Leichen auch so liegen lassen."

Mit rollenden Augen nahm Freya die erste Leiche von der Rothaarigen entgegen, die ihren Frust nun nicht mehr versuchte zu verbergen. Eine blutige Hand streifte Freya an der Wange und ließ sie das Gesicht verziehen. 

„Mir egal, Hauptsache ich seh euch in zwei Minuten arbeiten. Andernfalls seid ihr die nächsten, die in so einem Loch landen."

"Weshalb nehmt Ihr nicht eine der Frauen mit?" Iskaiis Stimme klang wie das Flüstern des Windes, doch der scharfe Unterton ließ keinen Zweifel an seiner Intention. Seine Augen huschten kurz zu Liam, der stumm daneben stand, als ob er in Gedanken versunken wäre. Doch er fühlte das Gewicht des Blickes auf sich, ein stummer Vorwurf, den er nicht ignorieren konnte.

"Was stört Euch diesmal, Schlächter?" Antrys Stimme war rau und fordernd, als er die Schaufel mit einem entschlossenen Schwung in den Boden rammte. Das metallische Klingen, als das Werkzeug den Boden traf, hallte durch die gespenstische Ruhe des Ortes. Als er die Schaufel losließ, fiel sie schwer ins Gras, das Geräusch gedämpft, doch die Geste hatte Gewicht. Alle Augen richteten sich wie magnetisch angezogen auf die beiden Männer, die nun im Mittelpunkt der unerwarteten Konfrontation standen.

Antrys braune Augen, tief wie der Waldboden und hart wie Granit, funkelten vor Ungeduld. Seine Stirn, von tiefen Falten durchzogen, zeigte seine Abneigung gegen unnötige Diskussionen. Die Spannung zwischen den beiden Männern war greifbar, ein Seil, das kurz davor war, zu reißen.

"Nichts, Da'Neriio. Nach Aufklebern - was auch immer das sein mag - zu suchen, erscheint mir lediglich keine Arbeit zu sein, die Muskelkraft erfordert. Gräber ausheben und Leichen tragen indes schon." Die Worte verließen seine Lippen wie eine Klinge, die durch die Stille schnitt.

Samantha, die gerade dabei war, den nächsten schweren Sack mit einer Leiche an Freya weiterzureichen, hielt inne. Ihre Hände, die zuvor fest zupackten, lösten sich, als ob sie das Gewicht nicht mehr tragen könnten. Der Sack fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.

"Hey!" Freyas Stimme war ein scharfes Zischen, ein Blitz aus Empörung, der durch die Luft schoss. Doch Samantha hörte sie kaum. Ihre Gedanken waren woanders, gefangen in den Tiefen der Absurdität der Situation. Sie drehte sich langsam um, die Augen auf Iskaii gerichtet, als ob sie in seinem Gesicht nach Antworten suchte, nach irgendeinem Zeichen, dass sie diese dunkle Stimmung verstehen konnte. Der Wind wehte durch das hohe Gras, brachte den süßlichen Geruch von Verwesung und den metallischen Hauch des Blutes mit sich.

„Wollen wir jetzt wirklich diese altmodische Debatte über starkes und schwaches Geschlecht führen?" Samanthas Stimme schnitt durch die kalte Luft, ihre Augen funkelten. „Überleg es dir gut, mein mürrischer Freund. Ich bin mir nicht sicher, ob du diesen Kampf gewinnen wirst." Ihre Worte waren wie eine Herausforderung, die sie ihm vor die Füße warf.

Iskaii hob beschwichtigend die Hände, um die Spannung zu entschärfen. „So war meine Aussage nicht gemeint", versuchte er sich zu erklären, während er dem durchdringenden Blick nicht ausweichen konnte. „Es ist offensichtlich, dass wir Männer mehr Muskelkraft haben. Das macht das Gräber ausheben und Leichen vergraben leichter, nicht wahr?" Seine Worte hingen einen Moment in der Luft, bevor er fortfuhr. „Weshalb solltet also nicht Ihr und Dandelia gehen oder ..." Er stutzte kurz, als ihm ein Name entfallen war. „Oder Freya und Dandelia?"

Dandelia, die gerade aus dem Grab gestiegen war, starrte ihn an, als hätte er etwas Unverständliches gesagt. Erde klebte an ihren Stiefeln, ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet und in ihren Augen spiegelte sich eine Mischung aus Enttäuschung und Verwunderung.

„Was ist los, Iskaii?", fragte sie leise, aber ihre Stimme hatte einen scharfen, enttäuschten Unterton. „Du bist nicht die Art von Mann, der Frauen auf ihr Geschlecht reduziert."

Iskaiis Augen richteten sich auf Liam, als er mit gedämpfter Stimme sagte:

„Womöglich möchte ich Antry nur im Auge behalten. Wir wissen, wie unberechenbar er sein kann. Wie rasend schnell der Zorn in ihm auflodern kann. Ich will um jeden Preis vermeiden, dass er ..." Er hielt inne, seine Worte blieben in der Luft hängen, als er Noraja durchdringend ansah. Die Pause dehnte sich aus, schwer wie ein aufziehendes Gewitter, bevor er schließlich mit leiser Stimme fortfuhr: „... dass er Noraja ernsthaft verletzt. Oder schlimmer noch."

„Ist das nicht etwas übertrieben?" Samantha schüttelte genervt den roten Schopf. „Soweit ich weiß, kennen die beiden sich gut und – zumindest soweit ich es verstanden habe – mögen sie einander sogar. Was auch immer zwischen ihnen passiert ist, ich will es gar nicht so genau wissen. Warum sollte er sie töten wollen? Einfach so? Ist er ein Vampir und sehnt sich nach ihrem Blut?"

Iskaii ignorierte den Spott und suchte nach den richtigen Worten, nach einer Möglichkeit, ihr klarzumachen, was er in Antrys Augen gesehen hatte, in den tiefen, unheilvollen Abgründen seiner Seele.

„Weil er gefährlich ist."

Bevor jemand etwas erwidern konnte, schaltete sich Dandelia ein.

„Er hat sich unter Kontrolle, Iskaii!", protestierte sie heftig, als ob sie mit der bloßen Kraft ihrer Worte die Bedenken des Kriegers zerstreuen könnte. Doch kaum hatte sie ausgesprochen, erklang ein dunkles, grollendes Knurren – tief und bedrohlich, als käme es aus den Tiefen einer uralten Bestie. Das Geräusch kam von Antry, seine Augen glühend vor unausgesprochenem Zorn, und nahm den Worten der Kriegerin ihre überzeugung.

„Womöglich sollten Dandelia und Antry nach diesen dämlichen Aufklebern suchen?" Liams Stimme war fest, ein Versuch, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Es war ein schwacher Vorschlag, aber es war besser als nichts – besser, als hier untätig zu stehen, während die Spannung in der Luft immer dichter wurde.

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