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Kapitel 20

Freya nahm einen tiefen Luftzug und hustete auf, als die kleinen Staubkörnchen in ihrem Rachen kratzten. Mit einem Seufzen rutschte Liam, der sich schützend über Freyas am Boden liegenden Körper gelegt hatte, von ihr und drehte sich auf den Rücken. Er schloss die Augen, rieb sich übers Gesicht und lachte. „Das darf alles nicht wahr sein."

Jason, der neben den Zwillingen lag, stützte sich auf den Ellenbogen ab und starrte ungläubig an die Mauer. „Sie hat wirklich gehalten." Leichtigkeit überrollte seinen angespannten Leib, doch der prasselnde Regen und das laute Tosen des Himmels vertrieben diese schneller, als sie gekommen war.

Langsam richtete sich Freya auf, verlagerte ihr Gewicht auf die Knie und sah durch die Runde. Keine Verletzten. Zumindest noch nicht. Den brennenden Blick von Samantha ignorierte sie noch für wenige Augenblicke. Erst nachdem sie sich aufgerichtet und einige lose Äste aus ihren Haaren gefischt hatte, drehte sie sich zu der Gruppe. Allen sah man die vergangenen Stunden an. Sie waren abgekämpft und müde. Dreckig und nach ihrem Äußeren zu urteilen, hatten alle eine heiße Dusche und einen verdammten Whiskey nötig. Wie sollte sie ihnen jetzt erklären, dass das Schlimmste noch vor ihnen lag?

Besorgt blickte sie zum Himmel, der immer noch von gleißenden Blitzen durchzogen wurde und dessen Farbe mittlerweile lila zu glühen schien.

„Meinst du, wir schaffen das ohne ihn?", fragte Liam, der sich gerade aufstand und sich die Klamotten ausklopfte. Schutt und kleine Steinreste fielen von dem Stoff, doch dessen Aufschlagen wurde von dem Rauschen der Blätter und dem Plätschern des Regens übertönt.

„Nein. Aber da wir uns nicht auf seine Hilfe verlassen können, ist Angriff wohl die beste Verteidigung", erwiderte Freya und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Samantha. „Diese Scheiße haben wir Skàdi zu verdanken, und wenn ich mir den Himmel so ansehe, ist sie angepisst. Und mit angepisst meine ich: sie will unseren Tod."

„Was auch sonst", säuselte Jason, ließ sich wieder auf den nassen Boden gleiten und breitete die Arme aus. „Wenn es euch nichts ausmacht, bleibe ich dann einfach hier liegen und warte auf mein Ende."

„Keine Hoffnung, dass Noraja dir zur Rettung eilt?", fragte Fergus lachend. Jason erhob den Mittelfinger und schloss die Augen.

Erschrocken fuhr Freya herum und sah Fergus irritiert an.

„Was?", fragte dieser und strich sich durch sein immer noch perfekt liegendes Haar.

„Hast du etwa die letzten fünf Minuten geschwiegen?"

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht so, dass ich es nicht kann. Ich tue es nur nicht sonderlich gern."

Ein Anflug von schlechtem Gewissen erfüllte Freya, welches sie sofort wieder abschüttelte. Auch dafür war jetzt noch nicht die Zeit. Stattdessen nickte sie und fragte: „Kannst du das noch ein paar Minuten beibehalten und am besten bei Jason bleiben. Ich fürchte, du wärst der Erste, den sie tötet."

Zu ihrer Überraschung stimmte er zu und setzte sich schweigend neben Jason. Ihr Blick wanderte zurück zu Dean, Antry und Dandelia. „Ich kann es euch nicht verbieten, aber ihr solltet ebenfalls hier bleiben. Es ist keine Garantie für euer Überleben, aber zumindest eine Chance."

Sie wartete nicht erst auf die Antwort, denn die kannte sie bereits. Fergus und Jason würden mit aller Wahrscheinlichkeit den Teufel tun und diesen Friedhof abermals betreten. Jens Schöpfungen überlegten wahrscheinlich schon, wie sie am schnellsten über die Mauer kamen.

Liam trat neben seine Schwester und nach einem kurzen Moment der Stille schwangen sie sich auf die Mauer und hockten auf deren Kante.

„Ich habe keine Ahnung, wie wir das Jen und Schildmaid erklären sollen", raunte Liam und erfasste das Trümmerfeld, welches sich vor ihnen offenbarte.

Ausgewurzelte Bäume lagen auf dem Boden und hatten alles, was ihnen beim Fall im Weg war, unter sich begraben. Grabsteine waren zerborsten und auseinandergerissen worden. Unzählige Blumen lagen an den Rändern der Friedhofsmauer und dort, wo einst die Krypta stand, war nichts geblieben, außer zwei der ehemaligen Stufen zu deren Eingang. Die Leichenteile und Überreste der Ghuls, die wie Fetzen quer über das Gelände verteilt waren, ignorierte er.

„Wir erklären gar nichts. Die beiden können froh sein, wenn sie zum Morgengrauen noch leben." Freya schwang sich von der Mauer und bahnte sich einen Weg durch die Gesteinsbrocken, die auf dem Weg zu der Krypta tief in den Boden gerammt lagen.

Der Sturm über ihnen wurde immer intensiver, auch wenn er sich noch außerhalb ihrer Reichweite befand. Er wühlte den Himmel auf, ließ den Regen in unnatürlichen Winkeln fallen und schickte jaulende Geräusche durch die Ruinen des Friedhofs.

Freya war selten nervös oder verspürte so etwas wie Angst, doch das Rauschen in ihren Ohren und ihre pulsierende Halsschlagader signalisierten genau das. Und doch ging sie unbeirrt und mit festem Schritt weiter auf die Überreste der Krypta zu, und als sie nah genug herangekommen war, erspähte sie zwei Schemen.

Sie standen eng voreinander, mitten zwischen dem Schutt und Geröll. Schwarzer Nebel schlängelte sich um ihre Leiber und schien die Umwelt und Zerstörung von ihnen fernzuhalten.

Freya holte tief Luft und hob resignierend die Hände über den Kopf. „Zu unserer Verteidigung. Wir wussten nicht, dass du ebenfalls in dieser Kammer der Kuriositäten warst, und – um ehrlich zu sein – dein Arsch war dabei niemals wirklich in Gefahr."

Skàdi vernahm Freyas wertlose Worte, doch ihr Blick ruhte immer noch fest auf Iskaii. Er zeigte immer noch keine Angst. Was sie tatsächlich neugierig machte. Sie wusste, dass er nicht aus ihrer Welt stammte und scheinbar damit vertraut war, um sein Leben zu kämpfen. Und doch nagte es etwas an ihrem Ego. Jeder fürchtete sie irgendwann. Sie konnte selbst durch den Sturm Freyas Angst riechen und er? Starrte sie an und wollte wissen, wer sie war. Komischer Kauz.

Sie unterbrach den Blick zu ihm und ließ diesen zu ihren Händen gleiten. Noch immer tanzten blau-weiße Lichtpunkte darum und mit jedem Blitz, der über den Himmel zuckte, spürte sie, wie sich die Energie um sie auflud. Sie kribbelte über ihre eisige Haut und füllte die tiefe Leere in ihrer Seele aus. Sie genoss diesen Moment, der einfach nur ihr gehörte.

Was würde sie wohl jetzt gerade empfinden, wenn sie dazu in der Lage wäre? Erneut sah sie zu dem Krieger, der offensichtlich nicht wusste, was er tun oder lassen sollte. Ein kaltes Lächeln zuckte über ihre Lippen. Ein Reflex, der ihr erhalten geblieben war. So wie alles, was sie noch menschlich wirken ließ.

„Ich bin das Ergebnis einer Menschheit, die sich nicht mit dem zufrieden geben konnte, was sie hatte. Ich bin ...", sie stockte, als ein lautes Grollen ihre Worte übertönte und sprach erst weiter, als es abgeklungen war „ ... ich bin oder war ein Mensch. Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau. Und es ist mir auch vollkommen egal. Ich bin das, was die Menschheit verdient. Deren Ende, wenn man es so will. Und um deine ausgesprochene Frage zu beantworten: Skàdi."

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